Friedensansätze für den Nahostkonflikt (aus dem Archiv der NZZ 7.Sept.2002)
pi. Johan Galtung, der norwegische Mathematiker und Soziologe, der sich seit Jahrzehnten unermüdlich für den Frieden in dieser Welt engagiert, die strukturelle und kulturelle Gewalt analysiert und für seine zum Teil bahnbrechenden Publikationen zahlreiche Auszeichnungen, darunter den alternativen Friedensnobelpreis erhielt, hat am Donnerstagabend im Landesmuseum über multilaterale Lösungsansätze im Nahostkonflikt gesprochen. Organisiert wurde die sehr gut besuchte Veranstaltung von der diesen Sommer in Zürich gegründeten Gruppe «Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden zwischen Israel und Palästina». Sie setzt sich für einen echten Dialog zwischen beiden Seiten ein.
Dass ausgerechnet Galtung eine Veranstaltungsreihe mit Vorträgen und Diskussionen eröffnete, ist Programm. Der jung gebliebene 72-Jährige betrachtet Konflikte, mögen sie noch so komplex und verfahren sein, mit nüchternem, analytischem Sachverstand, ohne je zu moralisieren. So auch den Nahostkonflikt. Beide Seiten hätten zwei klare Zielsetzungen: Israel wolle Sicherheit und sich ausdehnen; Palästina das Ende der Besetzung, Freiheit und einen eigenen Staat. Angesichts dieser Grundvoraussetzungen stelle sich die Frage, welcher Weg aus dem «Wahnsinn» führe.
Laut Galtung hat das Osloer Abkommen deutlich gezeigt, dass es keine bilaterale Lösung geben kann. Dafür gebe es zu wenig Land, zu viele Menschen und zu viel «Ausgewählt-Sein». Die von jüdischen Ultranationalisten propagierte sogenannte Transfer-Lösung – «zwei Millionen Palästinenser über den Jordan zu verschieben» – sei, so Galtung, nicht realisierbar. Ebenso wenig ein hinter Mauern und Stacheldraht verbarrikadierter israelischer Staat. Für Galtung gibt es einen einzigen Ausweg: eine multilaterale Lösung. Als Vorbild dient dem Friedensforscher die Annäherung Deutschlands und Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg, die in die Europäische Union mündete. Analog zu ihr müssten Israel, Syrien, Libanon, Palästina, Jordanien und Ägypten eine Gemeinschaft bilden. Politische Lösungen müssten auf Konsensbasis gefunden werden. Die kulturellen Wurzeln sind laut Galtung vorhanden. Schon vor der Zeit der Kreuzzüge lebten Juden, Christen und Muslime friedlich auf engstem Raum zusammen. Wichtig sei ferner eine starke Ökumene: Die vielen Gemeinsamkeiten, die «sanften Seiten» der Religionen müssten in den Vordergrund gerückt und gelebt werden. Wirtschaftlich und militärisch müsste zwischen den sechs Staaten eine Balance, eine Symmetrie gefunden werden.
Ist dieser Lösungsansatz realistisch? Oder handelt es sich lediglich um eine Vision eines Utopisten, eines Visionärs? Galtung ist überzeugt, dass in der nahen Zukunft «Gegenkräfte» und neue Ideen auftauchen werden. Schon heute befürworte im Nahen Osten eine Mehrheit der Menschen die Gewaltlosigkeit. Die israelischen Regierungen müssen sich laut Galtung ernsthaft die Frage stellen, welche Zukunft sie wünschen. Die Besetzungspolitik stosse immer mehr auf internationale Ablehnung; die Folge seien Boykottbewegungen. Und wie lange würden die USA Israel noch die Stange halten? Gemäss Aussagen Galtungs haben die arabischen Nachbarn nichts gegen ein gemässigtes Israel (eine Behauptung, die in dieser Pauschalität nicht überzeugt). Der Friedensforscher glaubt daran, dass sich die Grenzen eines Tages wirklich öffnen werden und eine allmähliche Durchmischung der Völker und der Religionen stattfindet.